Eine große Hamburgische Kirchenmusik um 1650
Textbeitrag zu einem Konzert im Rahmen des Arp-Schnitger-Festivals in St. Jacobi, Hamburg
Auftraggeber: Musikfest Bremen
Die Bürger Hamburgs hatten Mitte des 17. Jahrhunderts allen Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken: Dank des zwischen 1615 und 1626 in weiser Voraussicht angelegten umfangreichen Festungsgürtels hatte Hamburg den Dreißigjährigen Krieg weitgehend unbeschadet überstanden und war, wie der venezianische Diplomat Galeazzo Gualdo Priorato 1663 berichtete, »die bedeutendste, mächtigste und volkreichste Handelsstadt von ganz Deutschland«. Mitte des 17. Jahrhunderts lebten in der Hansestadt knapp 60.000 Einwohner, darunter etliche Tausend Zuwanderer aus aller Herren Länder, darunter England, den Niederlanden, Spanien, Portugal, aus Skandinavien und dem Baltikum, dank derer Handwerk und Wirtschaft der Hansestadt neue Impulse erhielten und aufblühten.
Man war stolz auf die eigene Stadt, die als Stadtstaat innerhalb eines ständisch orientierten Reiches eine absolute Sonderstellung innehatte. Die Repräsentation Hamburgs durch Malerei, Dichtung und Musik war daher von herausragender Bedeutung. Und die Kirchenmusik an den vier Hauptkirchen St. Petri, Nikolai, Katharinen und Jacobi spielte dabei eine besonders wichtige Rolle: Die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste diente nicht allein dem Lobe Gottes, sondern vor allem der repräsentativen Darstellung der Stadt vor in- und ausländischen Gästen. Dessen war sich auch Thomas Selle bewusst, der von 1641 bis 1663 in Hamburg als Kantor und »Chori Musici directore« wirkte und in dieser Funktion für die Organisation der Kirchenmusik in allen Hauptkirchen zu sorgen hatte. 1648 unterstrich er die immense Bedeutung der Kirchenmusik für die stolze Hansestadt:
»Es leidets auch dieser vornehme weitberümbte Ort nicht, daz man so hinläßig, liederlich vnd verächtlich musiziere wiewol von gemeinen Vaganten in anderen Städten geschieht, da mans nicht beßer haben vnd machen kan, weil hier vor erst keine Lehr-Schüler sondern vortreffliche berümbte Meister vermuthet; weil es die trefflich wolbestälte Respublicam orniren vund nit denigriren soll vnd weil viel frömbde Nationen sich hier aufhalten, die anderweit sehr schimpflich davon reden, wie dem Cantori gnug bekant ehe er hier an diesen Cantorat gelanget.«
Die hamburgische Kirchenmusik stand Mitte des 17. Jahrhunderts auf einem soliden Fundament von Musikern und Sängern: Man hatte eine Kantorei mit acht von der Stadt besoldeten Sängern zur Verfügung, Schüler des Johanneums ebenso wie Studenten und Lehrer des Akademischen Gymnasiums konnten für die Chöre herangezogen werden; die Mitwirkung der Hamburger Ratsmusiker für die kirchlichen Figuralmusiken war gesichert, darüber hinaus konnte man für große Festmusiken weitere Musiker wie die sogenannten Rollbrüder heranziehen. Die Stadtväter wussten sehr wohl um den Wert ihrer Kirchenmusik und ließen sie sich damals auch etwas kosten.
Im Programm des heutigen Abends lässt sich miterleben, welch große Prachtfülle den Besuchers eines Hamburger Festgottesdiensts um 1650 erwartete – so oder ähnlich könnte eine große Vesper anlässlich des Besuchs eines Monarchen, des Empfangs einer Handelsdelegation oder eines anderen städtischen Festanlasses zu dieser Zeit geklungen haben. Mit Motetten, Psalm- und Magnificat-Sätzen sowie Chorälen ist der Aufbau des Konzerts an der im 17. Jahrhundert in Hamburg üblichen Vesperordnung orientiert. Die im Programm vertretenen Komponisten entstammen etwa drei Musikergenerationen, die den Aufstieg Hamburgs zu einer Musikstadt ersten Ranges im 17. Jahrhundert in vielfältiger Weise begleiteten, sei es durch ihre Werke, ihre Künste als Organisten, als Pädagogen und als Organisatoren. Damit wird das heutige Konzert auch zu einem Streifzug durch etwa sechzig Jahre Musikgeschichte in Hamburg.
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Im Zentrum des ersten Konzertteils stehen Werke des großen Meisters der venezianischen Mehrchörigkeit Giovanni Gabrieli und seines nur wenige Jahre jüngeren Hamburger Kollegen Hieronymus Praetorius; sie unterstreichen die enge musikalische Beziehung, die zwischen beiden Städten im 17. Jahrhundert bestand.
Gabrielis festlicher Canzon in echo duodecimi toni stammt aus seiner Sammlung Sacrae Symphoniae (1597), ein zehnstimmiges Werk für Bläser in zwei Chören, die den Kirchenraum mit vielfältigen Echoeffekten ausloten. Die zwölfstimmige Motette zu Ehren Johannes des Täufers Suscipe, clementissime Deus für zwei Tenöre, Baritone und Bässe und sechs Posaunen ist den späteren Symphoniae Sacrae (1615) entnommen.
Die Werke des Organisten von San Marco wurden bereits wenige Jahre nach ihrer Drucklegung in Venedig auch nördlich der Alpen von deutschen Verlegern nachgedruckt und dürften somit Anfang des 17. Jahrhundert bis nach Hamburg gedrungen sein. Die entscheidende Schnittstelle zwischen Venedig und Hamburg war jedoch Hieronymus Praetorius, Mitglied einer Hamburger Musikerfamilie, die über mehr als siebzig Jahre die musikalischen Geschicke Hamburgs prägte und beeinflusste. Nach Studien in Köln und einer zweijährigen Amtszeit als Organist in Erfurt kehrte Praetorius 1586 in seine Heimatstadt zurück, um die Nachfolge seines Vaters Jacob (I) Praetorius als Organist in St. Jacobi anzutreten, eine Position, die er bis zu seinem Tod 1629 innehatte. Praetorius junior hatte selbst keinen direkten Kontakt zu den venezianischen Meistern; wo und wie er die Musik Andrea Gabrielis und seines Neffen Giovanni kennenlernte, ist nicht bekannt. Möglicherweise machte Praetorius mit dem venezianischen Prunkstil aber über Komponisten wie Hans Leo Hassler Bekanntschaft, der direkt bei Andrea Gabrieli gelernt hatte. Als Organist stand Hieronymus Praetorius durch seinen Vater Jacob ganz in der Tradition der norddeutschen Orgeltradition; auf dem Gebiet der Vokalmusik ließ er sich aber von den in Venedig üblichen großen mehrchörigen Werken inspirieren und etablierte diesen Stil in seiner Heimatstadt Hamburg.
Im Laufe seiner langen Amtszeit hatte Hieronymus Praetorius Gelegenheit, seine Werke in Druckform vorzulegen. Zwischen 1599 und 1625 veröffentlichte er sein fünfbändiges Opus musicum mit nicht weniger als 101 bis zu zwanzigstimmigen deutschen und lateinischen Motetten, sechs Messen und neun doppelchörigen Magnificat-Vertonungen. Dank dieser Sammlung wurde Praetorius als erster Musiker Hamburgs weit über die Grenzen seiner Heimatstadt bekannt. Und er schuf damit ein Standardwerk, auf das seine Hamburger Kollegen und Nachfolger wie auch Musiker im europäischen Ausland gerne zurückgriffen: Einige Bände seines Sammelwerks wurden in Frankfurt und Antwerpen neu aufgelegt, Auszüge finden sich zahlreichen zeitgenössischen Abschriften, und aus der Verteilung der erhaltenen Druckexemplare seines Opus musicum lässt sich ersehen, dass man Praetorius’ Kompositionen auch in Schweden, Dänemark und den Niederlanden gut kannte.
Das Hauptstück der Vesper bildet Praetorius’ 1602 veröffentlichtes Magnificat Secundi Toni à 8. Das Magnificat wird hier in besonders aufwändiger Form alternatim dargeboten: Praetorius’ Chorsätze wechseln nach festgelegtem Muster mit Versen nur für die Orgel ab. Diese Verknüpfung zu einem regelrechten Zyklus scheint, darauf lässt eine 1699 in Hamburg gedruckte Gottesdienstordnung schließen, eine in der Hansestadt des 17. Jahrhundert übliche Praxis gewesen zu sein. Im Rahmen dieser kombinierten Großform konnte der jeweilige Organist sein Können nach Belieben unter Beweis stellen; in einem grundsätzlich liturgisch gebundenen Zusammenhang ergab sich damit ein künstlerischer Freiraum, den die berühmten Hamburger Organisten gerne nutzten. An dieser Form wird besonders deutlich, dass der Übergang zwischen Gottesdienst und Konzert im Laufe des Jahrhunderts zunehmend fließender wurde.
Das Praeambulum und die Orgelverse des Magnificat stammen aus der Feder eines Vertreters der auf Hieronymus Praetorius folgenden Hamburger Organisten-Generation, Heinrich Scheidemann, der in der Nachfolge seines Vaters David Scheidemann ab etwa 1629, Praetorius Todesjahr, bis zu seinem eigenen Lebensende als Organist an St. Katharinen tätig war.
Den prächtigen Beschluss des ersten Teils macht Praetorius’ in vier Chöre aufgeteilte 20stimmige Motette Decantabat populus Israel (aus den Cantiones variae von 1618) für sämtliche Sänger und Musiker. Diese Motette gilt vollkommen zu Recht als eines der grandiosesten Werke des Komponisten: Zum Schluss vereinen sich die zuvor blockweise wechselnden Chöre zu einem großen Tutti, bei dem die hohen Stimmen der Chöre II und IV in hochdramatischen, über eine None reichenden Skalen zusammenfinden.
Im zweiten Teil des Konzerts kommt eine weitere Stadt ins Spiel, die für die Hamburger Komponisten und Organisten über Jahrzehnte eine große Rolle spielte: Amsterdam. War die Verbindung mit Venedig eine Art Bewunderung aus der Ferne, so gab es im Fall von Amsterdam eine direkte und sehr bestimmte persönliche Verbindung: Bei Jan Pieterszoon Sweelinck, dem Organisten an der Oude Kerk zu Amsterdam, lernten zahlreiche Hamburger Musiker mehrerer Generationen. Dazu gehörten die beiden Söhne von Hieronymus Praetorius, Jacob (II), und Johann, die später als Organisten an St. Petri bzw. an St. Nikolai die Familientradition fortsetzten, ebenso wie Heinrich Scheidemann, der vor seiner Anstellung an St. Katharinen auf Kosten des Kirchspiels und »in der Hoffnung, daß er ein braver Künstler und dereinst ihr Organist werden möge«, einige Jahre bei Sweelinck in die Lehre gehen durfte.
Die im heutigen Konzert vorgetragenen Psalmvertonungen sind Teil eines vokalen Großprojekts von Sweelinck: Ein Jahr nach seinem Amtsantritt an der Oude Kerk im Jahre 1577 wurde Amsterdam calvinistisch. Mit dem neuen Bekenntnis wurde auch der Genfer Psalter eingeführt, und Sweelinck machte es sich zur Aufgabe, sämtliche Psalmen zu vertonen. Endergebnis waren 153 vier- bis achtstimmige von der Form des Madrigals beeinflusste Psalmmotetten, darunter die hier vorgetragenen Vertonungen der Psalmen 150 und 116 aus dem Livre Troisieme (1614) bzw. dem Livre quatriesme des Pseaumes de David (1621), ergänzt mit vier Versen für die Orgel.
Sweelincks Einfluss auf die Orgeltradition in Hamburg war derart fundamental, dass man ihn schon im 18. Jahrhundert als den »hamburgischen Organistenmacher« titulierte (Mattheson, Grundlage einer Ehrenpforte). Bei aller musikalischen Expertise und Professionalität muss die Beziehung von Sweelinck zu seinen Hamburger Schülern aber auch persönlich sehr herzlich gewesen sein: Seinem Schüler Jacob (II) Praetorius verehrte der Niederländer 1608 eine Motette zur Hochzeit; und als Scheidemann 1614 seinen Lehrer gen Heimat verließ, verfasste Sweelinck einen Kanon »Ter eeren des vromen Jongkmans Henderich Scheijtman«.
Mit der lateinischen Pfingstmotette Veni sancte spiritus des Hamburger Kantors Thomas Selle gelangen wir wieder in norddeutsche Gefilde; auch hier stand der mehrchörige venezianische Stil Pate: Selle kombiniert drei vierstimmige Chöre in hoher, mittlerer und tiefer Lage und lässt die Verse über weite Strecken abwechselnd in vertikaler Richtung von oben nach unten durch die Chorgruppen laufen, sodass der Hörer vom Raumklang fast umkreist wird. Die Pavane à 6 des berühmten Geigenvirtuosen Johann Schop, der zwischen 1621 bis 1665 die Geschicke der Hamburger Ratsmusik lenkte, vergönnt uns einen kleinen Seitenblick auf die kompositorische Arbeit eines Musikers, der mit Selle und seinen Organisten-Kollegen an der Gestaltung der Gottesdienste und Figuralmusiken in den Hauptkirchen beteiligt war und sie sicher auch häufig unterstützte, wenn weltliche Werke aufzuführen waren.
Doch auch der reichen Organisten-Tradition an St. Jacobi wird nochmals mit dem fünfstimmigen Praeambulum Primi Toni von Matthias Weckmann gedacht: Der in Thüringen geborene Weckmann gehörte zur dritten Organisten-Generation in Folge, die das Musikleben in Hamburg prägte. Der junge Weckmann war zunächst Sänger an der Dresdner Hofkapelle, erhielt aber zwischen 1633 und 1636 auf Betreiben von Heinrich Schütz eine Orgelausbildung bei Jacob (II) Praetorius in Hamburg, die der sächsische Kurfürst höchstselbst finanzierte. Nach seiner Lehrzeit kehrte Weckmann nach Dresden zurück und arbeitete eine Zeitlang auch in Dänemark. Der Wendepunkt in seiner Karriere kam 1655, als er sich in Hamburg um die Organistenstelle in St. Jacobi bewarb. Nach einem fulminanten Probespiel konnte er die Wahl für sich entscheiden und verbrachte seine verbleibenden knapp zwanzig Lebensjahre als Organist und Kirchenschreiber von St. Jacobi und der Gertrudenkapelle in der Hansestadt. Unter seiner Leitung erlebte die Musik an St. Jacobi eine besondere Blütezeit. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit ließ Weckmann die damalige Jacobi-Orgel reparieren und erweitern, besondere Verdienste erwarb er sich auch durch die Gründung eines Collegium Musicum, mit dem er »die besten Sachen aus Venedig, Rom, Wien, München, Dresden« (Mattheson) spielte. Weckmann wurde 1674 unter großem Glockengeläut direkt unterhalb des linken Pedalturms seiner Orgel in St. Jacobi beigesetzt.
Auch der »Gemeindegesang« kommt zum Beschluss des Abends mit dem Choral des Organisten der Nikolaikirche Joachim Decker Sey Lob und Ehr zum Zuge, bevor sich mit Heinrich Schütz’ Vertonung des Psalm 8 Herr unser Herrscher aus den Psalmen Davids (1619) für sämtliche mitwirkenden Sänger und Musiker der Kreis schließt: Hier klingt nochmals die Verbindung zu Venedig aus dem ersten Teil des Konzerts an, hatte doch Schütz zwischen 1609 und 1613 die Möglichkeit gehabt, direkt bei Giovanni Gabrieli zu studieren; seine Psalmen Davids bezeichnete Schütz selbst als »Teutsche Psalmen auff Italienische Manier«, zu deren Komposition er »von meinem lieben und in der Welt hochberühmten Praeceptore Herrn Johann Gabrieln/ so lange in Italien ich mich bey ihme auffgehalten« angeregt worden sei. Ganz und gar typisch Schütz ist allerdings seine ebenso präzise wie liebenswürdige Textausdeutung, bei der er Schlüsselworte (wie »krönen«, »gehen«) durch kleine Melismen und Verzierungen dezent hervorhebt.
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Das Programm dieses Konzerts zeigt deutlich, dass es um die Kirchenmusik Hamburgs dank einer Vielzahl von herausragenden Komponisten und Musikern und einer über Generationen gepflegten Organisten-Tradition um 1650 bestens bestellt war. Und das wussten auch die Geistlichen zu St. Jacobi zu schätzen – so hieß es voller Stolz in einer Ansprache von Johann Balthasar Schupp, von 1649 bis 1661 Pastor dieser Hauptkirche:
»Wann ich nun mich wollte in musica vocali üben / so wollte ich deswegen eben nicht auff eine Teutsche in einem kleinen Landstädtlein gelegene Universität ziehen / sondern wollte zu Hamburg suchen den edlen Scheidemann / den vortrefflichen Matthias Weckmann / den wohlberühmten Johann Schopen / und andere Künstler / derengleichen in etlichen Königlichen / Chor und Fürstlichen Capellen nicht anzutreffen sind.«
Bildnachweis
Ebba Tesdorpf, Jacobikirchhof, Juni 1892 | Museum für Hamburgische Geschichte, Inv.-Nr. E 1894,297